Wenn der Blick in den Spiegel zur Qual wird – So erkennen und bekämpfen Sie den Hass auf den eigenen Körper
Stellen Sie sich vor, Sie stehen morgens auf, schauen in den Spiegel und alles, was Sie sehen, ist ein einziger Makel. Eine Nase, die Ihrer Meinung nach zu groß geraten ist, abstehende Ohren oder vermeintliches Übergewicht – egal, wie oft Ihnen Familie und Freunde versichern, dass mit Ihrem Äußeren alles in Ordnung ist. Menschen mit einer Dysmorphophobie können sich stundenlang über kleinste “Fehler” in ihrem Aussehen den Kopf zerbrechen, bis hin zur völligen sozialen Isolation. Doch woher kommt diese Selbstwahrnehmungsstörung und was kann man dagegen tun? In diesem Beitrag finden Sie Expertenantworten zu Symptomen, Ursachen und Behandlungsmöglichkeiten der Dysmorphophobie.
Dysmorphophobie auf einen Blick
- Psychische Störung mit übertriebener Beschäftigung mit einem eingebildeten Mangel im Aussehen
- Häufig betroffene Körperregionen: Haut, Haare, Nase, Bauch, Brust, Gesicht
- Typische Symptome: Ständiger Vergleich mit anderen, Vertuschungsversuche, sozialer Rückzug, Depression
- Ursachen noch nicht abschließend geklärt, Zusammenspiel aus Umwelteinflüssen und Genen vermutet
- Behandlung durch Psychotherapie (vor allem KVT) und Medikamente (SSRI) möglich und wirksam
Was genau versteht man unter Dysmorphophobie?
Der Begriff Dysmorphophobie, auch körperdysmorphe Störung genannt, beschreibt eine psychische Erkrankung, bei der sich Betroffene übermäßig mit einem vermeintlichen Makel in ihrem Äußeren beschäftigen. Dabei kann es sich um minimale Unregelmäßigkeiten oder sogar völlig eingebildete “Entstellungen” handeln, die von Außenstehenden meist gar nicht wahrgenommen werden. Die ständige Sorge um das eigene Aussehen beeinträchtigt Betroffene oft so stark, dass sie sich kaum noch aus dem Haus trauen und soziale Kontakte meiden. Im Extremfall kann die Dysmorphophobie zu Depressionen, Angststörungen und Suizidgedanken führen.
🚨 Achtung: Eine unbehandelte Dysmorphophobie kann lebensbedrohlich werden! Wenn Sie unter Suizidgedanken leiden, scheuen Sie sich nicht, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Die Telefonseelsorge ist rund um die Uhr anonym und kostenlos erreichbar: 0800 / 111 0 111 oder 0800 / 111 0 222.
Die häufigsten Symptome einer Dysmorphophobie
Nicht jede Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper ist gleich eine Dysmorphophobie. Erst wenn die Gedanken um das Aussehen überhandnehmen und den Alltag massiv einschränken, spricht man von einer ernstzunehmenden psychischen Erkrankung. Zu den typischen Anzeichen der Dysmorphophobie zählen:
- Andauernde Beschäftigung mit einem oder mehreren Körpermerkmalen, die als “hässlich” oder “entstellt” empfunden werden
- Ständiger Vergleich des eigenen Aussehens mit dem von anderen Menschen
- Häufiges Betrachten und Kontrollieren der “Makel” im Spiegel oder auf Fotos
- Versuche, die vermeintlichen Mängel durch Schminke, Kleidung oder Frisur zu kaschieren
- Vermeidung von sozialen Situationen aus Angst vor negativen Reaktionen
- Wiederholtes Aufsuchen von Ärzten oder Schönheitschirurgen mit dem Wunsch nach Korrektur
- Zwanghaftes Haarezupfen, Hautquetschen oder andere selbstverletzende Verhaltensweisen
- Depressive Verstimmungen, Scham- und Schuldgefühle, geringes Selbstwertgefühl
- Beeinträchtigungen in Schule, Beruf und zwischenmenschlichen Beziehungen
Was sind die Ursachen und Risikofaktoren für eine Dysmorphophobie?
Die genauen Auslöser für die Entwicklung einer Dysmorphophobie sind noch nicht abschließend erforscht. Experten gehen davon aus, dass sowohl genetische Veranlagungen als auch Umweltfaktoren eine Rolle spielen. Als mögliche Risikofaktoren gelten:
- Hänseleien oder Mobbing aufgrund des Aussehens in Kindheit und Jugend
- Strenge, perfektionistische oder erfolgsgetriebene Erziehung
- Traumatische Erfahrungen wie sexueller Missbrauch oder Gewalterlebnisse
- Überhöhte gesellschaftliche Schönheitsideale und medialer Schlankheitswahn
- Unsichere Bindungserfahrungen und mangelnde emotionale Zuwendung
- Komorbide psychische Störungen wie Depressionen, Zwänge oder Essstörungen
- Biologische Faktoren wie Hirnstoffwechselstörungen oder Hormonschwankungen
⚠️ Fakt ist: Jeder Mensch kann an einer Dysmorphophobie erkranken, unabhängig von Alter, Geschlecht oder tatsächlichem Aussehen. Die Störung hat nichts mit Eitelkeit oder Selbstverliebtheit zu tun, sondern stellt eine ernsthafte psychische Belastung dar, die professioneller Behandlung bedarf.
Mögliche Komplikationen und Folgeerscheinungen
Bleibt eine Dysmorphophobie unbehandelt, kann sie schwerwiegende Konsequenzen für die körperliche und psychische Gesundheit der Betroffenen haben. Häufige Komplikationen sind:
- Soziale Isolation bis hin zur völligen Selbstisolation im “Home Office”
- Leistungsabfall in Schule, Studium oder Beruf durch Konzentrationsstörungen
- Partnerschaftsprobleme und familiäre Konflikte aufgrund mangelnder Nähe
- Depressive Episoden mit Antriebslosigkeit, Schlafstörungen und Appetitlosigkeit
- Erhöhte Anfälligkeit für Suchterkrankungen wie Alkoholismus oder Drogenkonsum
- Zwangsstörungen mit ritualisiertem Kontrollverhalten oder Waschzwängen
- Essstörungen wie Magersucht oder Bulimie zur vermeintlichen “Verschönerung”
- Selbstverletzungen durch Hautmanipulationen oder Schönheitsoperationen
- Im Extremfall Suizidgedanken und -handlungen aus Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit
Wie wird eine Dysmorphophobie diagnostiziert?
Die Diagnose einer Dysmorphophobie erfolgt in der Regel durch erfahrene Psychiater oder Psychotherapeuten anhand der Kriterien des DSM-5 oder der ICD-10. Neben einem ausführlichen Anamnesegespräch zur Symptomatik und Krankheitsgeschichte kommen dabei verschiedene psychologische Testverfahren zum Einsatz, darunter:
- Dysmorphic Concern Questionnaire (DCQ): Selbstbeurteilungsfragebogen zur Erfassung der gedanklichen Beschäftigung mit dem Aussehen und daraus resultierenden Beeinträchtigungen
- Body Dysmorphic Disorder Questionnaire (BDDQ): Screening-Instrument zur Identifikation von Personen mit erhöhtem Risiko für eine Dysmorphophobie
- Yale-Brown Obsessive Compulsive Scale Modified for BDD (BDD-YBOCS): Fremdbeurteilungsskala zur Einschätzung des Schweregrades einer Dysmorphophobie anhand von Zeitaufwand, Leidensdruck und Beeinträchtigung der Lebensqualität
Wichtig ist auch der Ausschluss von organischen Ursachen wie Hirntumore oder Hormonstörungen mittels bildgebender Verfahren oder Labortests. Zudem muss abgeklärt werden, ob die dysmorphen Symptome im Rahmen einer anderen psychischen Grunderkrankung wie einer Depression oder Schizophrenie auftreten.
Welche Behandlungsmöglichkeiten gibt es?
Eine dysmorphe Störung ist gut behandelbar – vorausgesetzt, Betroffene suchen sich frühzeitig professionelle Hilfe. Je nach Schweregrad und individueller Problematik kommen dabei verschiedene Therapieverfahren zum Einsatz:
- Kognitive Verhaltenstherapie (KVT): Die KVT gilt als Methode der Wahl bei Dysmorphophobie. Dabei lernen Patienten in Einzelsitzungen, verzerrte Denkmuster und übertriebene Sorgen um ihr Aussehen zu hinterfragen und durch realistische, positive Bewertungen zu ersetzen. Auch Konfrontationsübungen mit angstbesetzten Situationen oder der Verzicht auf Kontrollrituale können Teil der Therapie sein.
- Medikamentöse Behandlung mit Antidepressiva: Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) wie Fluoxetin oder Escitalopram haben sich in Studien als wirksam bei der Linderung von dysmorphen Symptomen erwiesen. Sie können helfen, zwanghafte Gedanken und depressive Verstimmungen zu reduzieren und die Wirkung der Psychotherapie zu unterstützen.
- Gruppentherapie und Selbsthilfegruppen: Der Austausch mit anderen Betroffenen kann entlastend wirken und praktische Tipps für den Umgang mit der Erkrankung im Alltag liefern. Angeleitete Gruppentherapien bieten zudem die Möglichkeit, neue Verhaltensweisen in einem geschützten Rahmen zu erproben und soziale Kompetenzen zu trainieren.
- Familien- und Paartherapie: Da eine Dysmorphophobie oft auch Auswirkungen auf das Umfeld der Betroffenen hat, kann eine begleitende Therapie für Angehörige sinnvoll sein. Hier geht es darum, Verständnis für die Erkrankung zu entwickeln, dysfunktionale Kommunikationsmuster zu durchbrechen und gemeinsam Bewältigungsstrategien zu erarbeiten.
💡 Tipp: Eine Therapie erfordert viel Motivation und Durchhaltevermögen. Bleiben Sie geduldig mit sich und feiern Sie auch kleine Fortschritte! Mit der richtigen Unterstützung können Sie lernen, Ihren Körper so anzunehmen, wie er ist und wieder Freude am Leben zu finden.
Was kann ich selbst tun, um einer Dysmorphophobie vorzubeugen?
Auch wenn sich eine dysmorphe Störung nicht immer verhindern lässt, gibt es einige Dinge, die Sie für Ihr psychisches Wohlbefinden tun können:
- Hinterfragen Sie Schönheitsideale: Lassen Sie sich nicht von unrealistischen, retuschierten Körperbildern in den Medien unter Druck setzen. Schönheit liegt im Auge des Betrachters und hat viele Facetten.
- Pflegen Sie einen liebevollen Umgang mit sich selbst: Sprechen Sie freundlich mit sich und fokussieren Sie sich auf Ihre Stärken statt auf vermeintliche Makel. Würden Sie mit Ihrem besten Freund auch so hart ins Gericht gehen?
- Gönnen Sie sich Auszeiten vom Selfie-Wahn: In Zeiten von Instagram und Co. gerät man schnell in eine Spirale ständiger Selbstoptimierung. Schalten Sie bewusst offline und genießen Sie das Leben auch mal ungefilter.
- Treiben Sie regelmäßig Sport: Bewegung stärkt nicht nur die körperliche, sondern auch die psychische Gesundheit. Beim Sport lernen Sie Ihren Körper zu schätzen für das, was er leistet, statt sich auf optische “Makel” zu fixieren.
- Pflegen Sie erfüllende Hobbys und Sozialkontakte: Je mehr Sie Ihr Selbstwertgefühl aus Beziehungen, Erfolgen und sinnstiftenden Tätigkeiten ziehen, desto weniger sind Sie auf Bestätigung durch Ihr Aussehen angewiesen.
- Seien Sie ein gutes Vorbild: Wenn Sie Kinder haben, vermitteln Sie ihnen eine positive Einstellung zum Körper. Loben Sie sie für ihre Einzigartigkeit und nicht für ihr Aussehen oder Gewicht.
Fazit
Die Dysmorphophobie ist eine ernstzunehmende psychische Erkrankung, die das Leben von Betroffenen und ihren Angehörigen massiv beeinträchtigen kann. Doch es gibt Hoffnung: Mit der richtigen Behandlung und Unterstützung können Patienten lernen, ein neues Verhältnis zu ihrem Körper zu entwickeln und die Krankheit langfristig zu bewältigen. Der erste Schritt ist, sich einzugestehen, dass man Hilfe braucht und sich einem Arzt oder Therapeuten anzuvertrauen. Sie sind nicht allein mit Ihrem Leiden – scheuen Sie sich nicht, sich jemandem zu öffnen. Eine bessere Lebensqualität ist möglich, auch wenn die Dysmorphophobie Ihnen gerade das Gegenteil weismachen will. Bleiben Sie dran!
Quellen:
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